Änderungsatelier


Fotografie ist auch Gedächtnisstütze. Die Aufnahmen von Reinecke&Wimmer zeigen Kartoninstallationen aus Gebrauchtverpackungen des Einzelhandels, verteilt im ersten Obergeschoss des Einkaufszentrums Hamburger Straße in Barmbek im Frühsommer 2008. Eingepasst hier und da in Ecken und Winkel, unter Schrägen, begrenzt von Fliesenfugen oder Fensterkreuzen, von Vorschriften oder Richtungsvektoren. Gegenüber dem Schönheitsstudio, im Korridor zur Parkgarage, in den toten Raum hinein. Eingeschachtelte Kartons, ineinander gesteckt wie geschuppte Fischhaut. Skulpturale Setzungen, die wie Pilze am nährreichen Ort geschmeidig aufblühen. Ihr Volumen und ihr Material nehmen abseitigen Raum ein. Das provisorisch benutzte Material behauptet seine Präsenz durch die eigenlogische Platzierung an ungewöhnlichen Stellen und durch seine stimmige, geschlossene Form. Ihre Machart reflektiert den Umgebungsraum. Der Blick stolpert. Die funktionale Innenarchitektur des Gebäudes tritt in Gegensatz zu den Kartons. Ein Raumpatchwork aus der uneinheitlichen Fügung von Linien, Perspektiven, Materialien, Lichttemperaturen, Bodenbelag, Transparenz und Blickdichte tut sich auf. Echte Unordnung inmitten all der prätentiösen Ordnung. Unbauten öffnen die Augen für Bauten. Die Wucht und Massivität der 70er-Jahre Architektur des schnellen Konsums macht blind für die graziöse Unbeholfenheit ihrer Oberflächen. Die Kunst schafft Abhilfe. Eine Kunst, die Abstand herstellt und sich übt in den Grammatiken der Formfindung, die zurückkehrt zum armen Material und seiner Historizität. Sie nimmt konzeptuelle Setzungen in Schwellenräumen vor und macht Übergangssituationen zwischen öffentlich und halb-öffentlich zum Thema. Ihre Reduktion auf Grundfragen der Bildhauerei (Volumen, Statik, Materialverbindungen, Formbarkeit, Formverlust) dient der Suche nach einer eigenen Grammatik. Unbauten sind unbenutzbar. Sie fungieren als ästhetisches Scharnier und enthüllen die Charaktermaske der Architektur. Nicht schlecht für einen Diesel.


Dirck Möllmann